Meine Kolumne "Philosophische Sentenz des Monats" auf der kommerziellen Website "Geschenke aus den Museen der Welt".
Philosophische Sentenzen von 2012


museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012
Alles ist ein Leben
15.01.2012

Lehrte Jesus noch: Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst, und mit "deinen Nächsten" die Mitmenschen meinte, so müsste er heute, 2000 Jahre später, lehren: Liebe deine Mitwelt, wie dich selbst, denn sie ist ein Teil von dir. Das ist zwar auch eine Art von Eigenliebe, ohne die es offenbar nicht geht. Während wir den Horizont unserer Liebe erweitern sollten, würde ich jedoch für die Feindesliebe, die Jesus ebenfalls predigte, eine Einschränkung machen. Wie sich zeigen lässt, ist das Leben, infolge seines nicht aufzuhebenden aneignenden Charakters, von Natur aus "böse". Den Feinden, die ein Leben oder eine Lebensgemeinschaft bedrohen, muss man selbstverständlich Einhalt gebieten, aber natürlich mit Maß und Ziel. Es kann also nicht darum gehen, Böses einfach hinzunehmen. Jedes Lebewesen wehrt sich, so gut es dies kann. Es ist sein gutes Recht. Doch sollte uns kein Lebewesen zu gering sein, um es zu achten. Wenn jemand ein Insekt, das sich in seine Wohnung verirrt hat, ohne ihm schaden zu wollen, erschlägt, statt es nach draußen zu leiten, sollte er besser der Jesusworte gedenken: "Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!" Denn Bruder ist alles, was da fleucht und kreucht. Alles ist EIN Leben, das sich nur vielfach verzweigt hat. Und jedermann sollte sein Bewusstsein so schärfen, dass er Schmerz empfindet, wenn Natur unnötig bedrängt oder gar zerstört wird. Zur Würde des Menschen gehört für mich, dass er fähig ist, die Dinge um ihrer selbst willen zu lieben und zu respektieren, als den Widerschein der großen Schöpferkraft, der auch er sein Dasein verdankt.

Es ist an der Zeit, für eine andere Lebensqualität zu werben. Nicht mehr die Anhäufung materieller Güter und die Befriedigung immer neuer Egotrips darf das Ziel sein, sondern - bei einer Grundversorgung mit allen überlebenswichtigen Gütern - das Erschließen der Innerlichkeit, um so die Fülle des Seins zu erfassen. Laotse beschrieb dieses erstrebenswerte Ziel im fünften Spruch des Taoteking so:

Das Allumfassende kennt kein Einzellieben
Sich immerfort darbringend durchdringt es alles Leben.
    So auch der Vollendete:
    er kennt kein Einzellieben.
    sich immerfort darbringend
    durchdringt er alles Leben.
Das Allumfassende gleicht einem Blasebalg;
seine Leere dient seiner Fülle,
und er füllt sich, nachdem er sich ausgibt.
    So auch der Vollendete:
    dadurch, dass er sich aufschließt,
    kommt er zur Fülle.

(nach Carl Dallago/Laotse/Der Anschluss an das Gesetz/Verlag Lambert Schneider Heidelberg)

Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS - III. Die Hervorbringung des Menschlichen
(III/9) Grundlagen einer holistischen Ethik
http://www.helmut-hille.de/ethik.html


museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012
Die Bewegung - das Phantom der Physik
15.02.2012

Der Attributationsmechanismus - die Methode mit Nichtwissen umzugehen

Einer der erfolgreichsten und folgenreichsten Tricks des Gehirns, sein Nichtwissen über die Welt zu überbrücken, ist der, von sich auf andere zu schließen. Sich kennt man, das andere nicht, also hält man sich an das Bekannte. Darum hat diese Methode den größten Grad von Plausibilität. Mensch und Tier benutzen sie tagtäglich. Nicht nur die Katze jagt einem welken Blatt hinterher, mit dem der Wind spielt, weil es sich für Momente wie etwas Lebendiges verhält, um das es der Katze geht. Pöppel spricht in seinem Buch "Geheimnisvoller Kosmos Gehirn" da einmal ganz verschämt vom "Attributationsmechanismus", mit dem Belebtes und Unbelebtes vom Hirn gleichermaßen überzogen wird. Der Attributationsmechanismus versucht, alles nach Art des Lebendigen, beim Menschen möglichst auch noch nach menschlicher Weise zu verstehen. Jeder hat schon vom Animismus gehört, der jedoch keineswegs einer grauen Vorzeit angehört. Nichteinmal die Wissenschaft ist von ihm bis heute verschont. Für einen Beutegreifer jedoch, der seinerseits Fressfeinde hat, ist die auf sich selbst bezogene Analogie "was ich denk' und tu, das trau ich jedem anderen zu" eine erfolgreiche Strategie, kommt es ihm doch vor allem auf das Lebendige an, darum wird er sich auf sie verlassen, auch wenn mal ein welkes Blatt ihn genarrt hat.

Weil die Menschen ihre beutegreiferischen Instinkte noch längst nicht abgelegt haben - man sehe sich nur ihre Geschichte bis zum heutigen Tage an, - sind für sie auch physikalische Körper im Zustand der "Ruhe" oder der "Bewegung", je nachdem, ob sie sich als ortsfest oder als ortsveränderlich zeigen. Daher fanden es selbst die Spitzen des europäischen Geisteslebens nicht unter ihrer Würde, jahrhundertelang darüber zu streiten, ob sich die Erde oder die Sonne "bewegt" oder "stillesteht", obwohl beide Körper rein physikalischer Natur sind und keine Bewegungsorgane haben, um dieser Frage einen objektiven Sinn geben zu können. Im Gegensatz zu einem Lebewesen, das in der Regel seine Muskeln spielen lassen muss und dabei Energie verbraucht, um sich im Zustand der Bewegung zu erhalten, ist ein natürlicher unbelebter Körper, trotz seiner "Bewegung", für sich selbst in absolut nichts von einem "ruhenden" unterschieden - darum ist es ja möglich, über die Bewegungsfrage endlos zu streiten. Für die Grundgesetze der Physik spielt es daher keine Rolle, ob Körper von uns als im Zustand der "Ruhe" oder der "Bewegung" angesehen werden, da dies nur Wertungen des Beobachters sind, wenn er sie zu einem von ihm als solchen angesehenen Fixpunkt taxiert. Aus diesem Grund gilt Newtons 1. Axiom für beide Zustände gleichermaßen, wie es in ihm auch ausdrücklich heißt, was man jedoch bis heute geistig nicht realisiert hat. Wie das Kino seit über 100 Jahren mit seinen Standbildern beweist, ist die Bewegung ein Eindruck, der durch geschickten Bildwechsel im Kopf des Zuschauers entsteht. Das Bewegungsproblem der Physiker ist ihr Problem mit dem falsche Erwartungen erzeugenden Attributationsmechanimus und nicht mit dem toten physikalischen Gegenstand selbst, der von ihrer biomorphen Denkkategorie "Ruhe und Bewegung" und den mit ihr verbundenen Fragen und Antworten überhaupt nicht berührt wird. (Das Problem von Schein und Sein)

Das Kino und auch das nicht mehr ganz junge Fernsehen haben es nicht geschafft, auch nur ansatzweise ein allgemeines Bewusstsein dafür zu erzeugen, dass die Wahrnehmung von Bewegung im Kino und von unbelebten Dingen eine Illusion ist, die einzig im Kopf des Zuschauers existiert. Man meint immer noch, die Illusion des Kinos wären die gezeigten Liebes- und Heldengeschichten, so wenn der in Wahrheit homosexuelle Hauptdarsteller wiedereinmal zum allgemeinen Entzücken den hingerissenen Liebhaber eines künstlich erblondeten Mädchens mimt. Man hat ganz vergessen, dass schon Aristoteles über die Wahrnehmung von Bewegung und Größe feststellte: "Da ist nun am meisten die Wahrnehmung dem Irrtum ausgesetzt." Und dass von den vorsokratischen Eleaten ("Parmenides, Melissos und ihre Anhänger") überliefert ist, dass sie lehrten, "dass sie [die Bewegung] nicht existiert", nämlich als eine objektive Eigenschaft eines Unbelebten, kommt diese doch nur dem Belebten zu.

Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS - II. Das Verhältnis von Denken und Sein
(II/7) Das Gehirn und sein Ich. Eine notwendige Klärung
http://www.helmut-hille.de/page22.html


museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012
Die Zeit, wie so vieles, ein Geschenk des Gedächtnisses
15.03.2012

Alles Wahrnehmen von Zeitlichem wird uns durch das Gedächtnis geschenkt. Ohne das Gedächtnis hätten wir nur unverbundene Momentaufnahmen von Bildern und Lauten. Erst durch das verbindende und vergleichende Gedächtnis entsteht das, was wir als Veränderung, Bewegung, Sprache und Melodie erleben. Die erlebte Welt ist so ein Konstrukt des Gehirns. Doch dieses bildet und speichert die Wahrnehmungen nicht einfach nur ab, sondern selektiert und bewertet sie nach den Erfordernissen seines Trägers. Das hat das Gehirn im Laufe der Evolution gelernt, die das Bewährte bewahrt. Für den Menschen als soziales Wesen kommt es jedoch mehr darauf an, mit seinesgleichen in Frieden leben zu können. Höherwertige soziale Fähigkeiten verdrängen das beliebige Wissen in den Untergrund. Es gibt Menschen, Savants, "wissende Idioten", genannt, die dazu nicht in der Lage sind. Sie können sich zwar alles bis ins Detail merken oder sind wahre Rechengenies, jedoch oft unfähig, sich selbst zu versorgen oder am Gemeinschaftsleben teilzunehmen. Dustin Hoffman hat im Film "Rainman" einen solchen, im Alltag hilflosen Savant großartig gespielt. Die Hirnforscher rätseln nun, ob nicht jedermann über ein solches Wissen verfügt, das zugunsten seiner sozialen Präsens verdrängt ist.

Die Bedeutung des Gedächtnisses kann nicht überschätzt werden, denn wie Alzheimer zeigt, gibt es ohne das Gedächtnis kein geistiges Menschsein. Die letzten verständlichen Worte der ersten Alzheimerpatientin waren: "Herr Doktor, ich habe mich verloren". Was dies heißt, erlebt heute ausgerechnet der Rhetoriker und Philologe Walter Jens, für den Sprache alles war, auf besonders tragische Weise. Seine Frau, sein Sohn und seine Pflegerin lassen uns durch die Medien an seinem Alzheimerschicksal Anteil nehmen, weil es in einer alternden Gesellschaft viele treffen kann. Deshalb sollten wir bewusst die Leistungen des Gehirns genießen, solange es noch funktioniert. Es sind ja nicht nur Musik und Sprache die es uns schenkt. Auch die Farben, die es zur besseren Unterscheidbarkeit der Dinge generiert, sind eine solche Gabe, die Farbenblinden nicht vergönnt ist. Und wie könnten wir uns in der Welt orientieren, wenn wir kein gespeichertes Wissen hätten?

Voltaire hat in seinen philosophischen Erzählungen "Wie die Welt es treibt" auch "Das Abenteuer des Gedächtnisses" geschrieben. Um die Menschen wegen ihrer Verachtung desselben zu strafen, baten die Musen ihre geliebte Mutter Mnemosyne, der Göttin des Gedächtnisses, den Menschen das Gedächtnis zu nehmen. Darauf brach ein allgemeines Chaos aus, weil niemand mehr wusste, was zu tun ist. "Der Gerichtspräsident und der Erzbischof liefen nackt herum, und ihrer Stallknechte trugen teils den roten Talar, teils die Dalmatika; alles war durcheinander, alles schickte sich an, vor Elend und Hunger umzukommen, weil eine Verständigung nicht möglich war". Auf Bitten der Muse gab Mnemosyne nach einigen Tagen den Menschen das Gedächtnis zurück und sie rief ihnen zu: "Dummköpfe, ich verzeihe Euch: aber erinnert Euch daran, dass es ohne Sinne kein Gedächtnis gibt, und ohne Gedächtnis keinen Geist":

Die Verachtung einer eigenen Rolle des Geistigen ist auch ein Problem unserer Tage. Für mich sind jene Wissenschaftler besonders arm dran, die fest davon überzeugt sind, alles wäre so, wie es sich ihnen zeigt. Für sie ist die Zeit eine Sache, die außerhalb des Gehirns draußen in der Welt existiert, weshalb sie quasi mit der Uhr in der Hand durch die Labore laufen, um die "wahre Systemzeit" zu messen, so wie die Schildbürger einst das Licht in Säcke einfangen wollten, wobei das Licht immerhin noch etwas Reales ist. Doch die Zeit ist nicht der Gegenstand sondern das Maß des Messens, nämlich der Dauer, die an unsere Erinnerungsfähigkeit gebunden ist. Außerhalb unseres Erinnerns gibt es nichts, was wir die Zeit nennen können. Das sollte uns Anlass zur Dankbarkeit gegenüber der Beobachterrolle sein, die wir nicht hoch genug einschätzen können. Und je klarer wir sie sehen, umso mehr wird uns letztlich auch die Welt verständlich – soweit jemand daran gelegen ist.

Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS - II. Das Verhältnis von Denken und Sein
(II/2) Einsteins Frage nach der Gegenwart. Das Gespräch Einstein – Carnap
http://www.helmut-hille.de/carnap.html


museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012
Das Herstellen von Relationen und eines Reichs des Möglichen
15.04.2012

Relationen sind Beziehungen, die ein Beobachter zumeist automatisch und damit unbewusst herstellt. Relationen können formal, also nur für den Beobachter existierend sein, oder real, also auch in der Sache vorliegend, was jedoch von Fall zu Fall erst zu ermitteln ist und nicht im Vorhinein feststeht. Eine reale Beziehung besteht z. B. zwischen zwei Körpern durch die sie verbindende Schwerkraft oder zwischen einer Lichtquelle und dem Empfänger ihres Lichts, eben durch das die beiden verbindende Licht. Am häufigsten hat jedoch der Mensch mit Relationen zu tun, die er rein geistig zu seinem eigenen Verständnis herstellt, so wenn er sagt, dieser Apfel ist größer als jener, oder der Bäcker A ist weiter weg als der Bäcker B, oder Franz läuft schneller als Fritz. Größer zu sein, weiter entfernt zu sein oder schneller zu sein, oder das Gegenteil, sind keine Eigenschaften, welche Dinge für sich selber haben, sondern die nur in den Augen des Beobachters existieren. Sie entstehen durch geistige Verknüpfungen. Durch Verknüpfung ordnen wir dem Wahrgenommenen uns Verständnis gebende Eigenschaften zu, z.B. durch die Zugabe eines Ortes die Eigenschaft der Bewegung, d.h. der Ortsveränderung. So gibt es auch hierbei die Mischung aus objektiven und subjektiven Elementen, wodurch etwas Neues entsteht, mit dem wir uns die Dinge geistig und real verfügbar machen, also ein Herrschaftswissen gewinnen, das uns z. B. nach dem größeren Apfel greifen und, um Zeit zu sparen, zu dem näheren Bäcker gehen lässt. Und wenn wir dem Fritz den schnelleren Franz hinterherschicken, dann können wir ziemlich sicher sein, dass er ihn einholt.

Die Interpretation von Wirklichkeit geschieht durch die Zuteilung einleuchtender Eigenschaften, wodurch wir die Dinge geistig in den Griff bekommen. So auch beim Messen. Wir können eine Distanz messen, ohne dass es eine Sache "Distanz" gibt. Überhaupt werden nicht Dinge gemessen, sondern immer nur Aspekte von Dingen, von den Metrologen (Metrologie = Maß- und Gewichtskunde) "Merkmale" genannt, die wir auf Grund unseres geistigen Vermögens bilden und an die Dinge herantragen. Messen ist also etwas rein Geistiges und setzt den Begriff der benutzten Größe und einen definierten Maßstab voraus, dem der verwendete möglichst genau entsprechen soll. Das ganze Messwesen ist - als Ausdruck von Macht - eine Vereinbarung unter Menschen, um gemeinsam mit der Welt erfolgreich umgehen zu können.

Aber aus dem Erfolg von Handlungen kann nicht auf die Objektivität von Annahmen geschlossen werden, sondern nur auf die Zweckmäßigkeit des Vorgehens, um eine fremde Sache zu einer eigenen zu machen.

Nicht ein Körper selbst besitzt die Eigenschaften "Ort", "Ruhe", "Bewegung", "Geschwindigkeit" und "Richtung", sondern der Mensch besitzt intellektuell die Fähigkeit, durch Benutzung eines Maßsystems der Sache diese Eigenschaften, die sie nicht für sich selber hat, zuzuordnen und aus dem sich daraus ergebenden Wissen Folgerungen zu ziehen, z. B. über die Energie des Körpers, die er bei der Begegnung mit einem anderen Körper in Abhängigkeit von der Menge seiner Materie hätte. Solange es nicht zu einer Begegnung zwischen Körpern kommt, gehört diese Energie rein zum Reich des Möglichen, das nur im Kopf des Beobachters existiert, während die Begegnung zum Reich des Realen gehört, in dem sich - unabhängig von einem Beobachter - etwas ereignet. Nur Ereignisse sind real und daher ist es zum Verständnis des Wissens wichtig, zwischen der virtuellen und der realen Welt zu unterscheiden, wie das die Quantenmechanik tut, ohne sich dazu immer recht erklären zu können, wie Zeilingers Buch "Einsteins Schleier. Die neue Welt der Quantenphysik" belegt, weshalb er mit Recht hier auch eine Aufgabe der Philosophie sieht.

Zum Weiterlesen:
ZEIT UND SEIN - Tagungsbeiträge
(3) DPG 2006: Die Natur des Wissens verstehen
http://www.helmut-hille-philosophie.de/natur2.html


museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012
Empathie – was ist das?
15.05.2012

Lt. DUDEN bedeutet "Empathie" (griech.) die "Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen". Sie steht für das deutsche Wort "Einfühlungsvermögen" und hat zu tun mit "emotionaler Intelligenz". Sie ist intuitiver Natur und die wichtigste Voraussetzung für sozialverträgliches Verhalten. Sie fühlt und erkennt unmittelbar, was ein anderer mit seinem Verhalten und Sprechen erreichen möchte und was ihn antreibt, so dass man sich darauf einstellen kann. Empathie ist gewissermaßen der intuitive Umgang der eigenen Ganzheit mit der eines anderen. Hirnforscher sehen dafür "Spiegelneuronen" verantwortlich.

Empathie beschränkt sich aber nicht nur auf Menschen und Tiere, sondern ist auch Voraussetzung von Sachverstand. Die Fähigkeit, wenigstens rudimentär von der Natur einer Sache her zu denken, macht den sog. "gesunden Menschenverstand" aus, welcher der Menschheit bisher das Überleben gesichert hat. Es habe eben jene Individuen und Gruppen auf Dauer überlebt, welche die Überlebensbedingungen sowohl erkannten, als auch sich ihnen anzupassen vermochten, was heute in einer hochtechnisierten und global vernetzten Welt immer schwieriger wird. Bedenken wir aber unsere Antriebe nicht, wird die Menschheit infolge ihrer Mächtigkeit und großen Zahl am unkontrollierten Egoismus scheitern.

Wie der Beutegreifer "Mensch" als Kind lernen muss, Mein und Dein zu unterscheiden, will er mit seinesgleichen in Frieden leben, so muss er als Erwachsener durch liebende Hinwendung an das Nicht-Ich lernen, Schein und Sein zu unterscheiden, um mit diesen Planeten und seinen Menschen in Frieden leben zu können. Denn der Schein ist dasjenige, mit dem er sich die Welt nach eigenen Erfordernissen geistig angeeignet hat und auf den hin er mit ihr selbstbezogen umgeht. Zu der männlichen Sichtweise, der es um Beherrschung und Ausbeutung geht, muss auch bei Männern die weibliche um liebendes Verstehen gehende Sichtweise der Empathie hinzukommen.

Die so sozial so wichtige Fähigkeit der Empathie ist nicht jedem gegeben. Sich in sein Gegenüber nicht hinein versetzen zu können ist das Hauptmerkmal des Autismus. Zu der für Autisten typischen extremen Selbstbezogenheit gehört, nicht die Andersartigkeit eines Gegenübers begreifen zu können. Doch es kann sein, dass sich bei ihnen dafür tiefer liegende Fähigkeiten des Gehirns auf Gebieten besser entfalten können, bis hin zum "Wunderkind" und "Genie", die eine eigene Logik haben, wie Musik, Mathematik und Physik. Der bekannteste Autist ist der Physiker Albert Einstein, der hauptsächlich auf die "logische Konsistenz" seiner Theorien setzte. Er war ein Meister in Gedankenexperimenten, während ihn reale Experimente kaum interessierten. Auch musste er die Rolle des Beobachters nicht leugnen - er kannte keine! Einstein selbst in einem seiner Reisetagebücher über sich: "In Gleichgültigkeit verwandelte Hypersensibilität. In Jugend innerlich gehemmt und weltfremd. Glasscheibe zwischen Subjekt und anderen Menschen." Max Brod, der Einstein in seiner Prager Zeit kennenlernte: "Der größere wichtigere Teil seines Lebens spielte sich unbewusst ab und zwar im wahrsten Sinne des Wortes unzugänglich für andere wie für ihn selbst. Absicht dürfe ihm dabei aber nicht unterstellt werden, war er doch im strengsten Sinne des Wortes: unzurechnungsfähig, unverantwortlich für all das, was er tat." Vom Autismus wusste man damals noch nichts. (Zitate aus der Einsteinbiographie von Jürgen Neffe, Rowohlt 2005)

Künstliche Intelligenz kann emotionale Intelligenz nicht ersetzen. Sicher wird man einmal Roboter und Computer bauen können, die sich WIE intelligente Wesen verhalten und die WIE verständige Menschen mit uns sprechen. Aber nur wer den Anschein schon für das Sein hält, wird ihnen Intelligenz, Denken, Gefühl und Mitgefühl zubilligen wollen, die Menschen befähigen, sowohl den Sinn des Gesagten zu erfassen, als auch die Absicht und das Denken das dahinter steht, zu durchschauen, was eben nur mit Empathie gelingen kann. Freilich, wer selbst ohne Empathie ist oder sie nicht wahrnimmt, wird sie auch nicht bei Robotern und Computern vermissen.

Zum Weiterlesen:
ZEIT UND SEIN - Texte in Versform
[15] Gehirn und KI
http://www.helmut-hille-philosophie.de/gehirn.html


museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012
Auf was Verstehen beruht
15.06.2012

Der US-amerikanische Wissenschaftsautor Thomas S. Kuhn (1922-1996) fragte: "Wie muss die Welt beschaffen sein, dass wir sie verstehen?" Doch muss die Frage nicht eher lauten: "Wieso meinen wir, die Welt zu verstehen?" Dieser Frage wird hier nachgegangen. Denn nur wenn wir wissen, auf was unser Verstehen beruht, können wir auch unser Weltverständnis einschätzen. Doch was die Welt jenseits unseres Verständnisses ist, bleibt uns zwangsläufig verborgen. Kuhns Frage ist also müßig und hat mit der Verkennung der kaum zu überschätzenden Beobachterrolle zu tun. Andererseits meinte er in der Physik zu Anfang des 20. Jahrhundert einen "Paradigmenwechsel" zu erkennen, also der Wechsel eines Denkmusters, das natürlich auch einfach ein Modewechsel gewesen sein kann, wie er oft im menschlichen Leben vorkommt.

Wollen wir uns nicht auf solche Moden verlassen, gilt es die Natur unseres Verstehens zu klären. Dazu gehören in erster Linie Konstanten, auf die wir uns verlassen können. Quantitativ sind das Zahlen und physikalische Größen mit ihren in Normen und internationalen Konventionen vereinbarten Messeinheiten, auf denen die technische Zivilisation beruht. Qualitativ sind es wiederkehrende immer gleiche Erfahrungen. Wahr ist uns, was sich bewährt und dasjenige, was uns von Autoritäten als "wahr" gelehrt wird, denn man kann ja nicht alle Erfahrungen selber machen. Und wo wir nicht tiefer blicken, schließen wir uns einfach dem Zeitgeist an, von Kuhn "Paradigma" genannt, der eben der Denkmode unterliegt. Das kann natürlich in den Naturwissenschaften nicht sehr befriedigend sein, weshalb sie nach Beweisen suchen muss. Doch auch Beweise haben ihren Wert nur in dem Zusammenhang, in den sie gestellt sind und der in der Sache nicht das letzte Wort sein muss. Darüber hinaus ist jeder Beweis nur soviel wert, wie der Geist, in dem er geführt wird. Ist der Geist nicht lauter und frei von Vorurteilen, sind es auch seine "Beweise" nicht. Denn was wir denken und reden ist ein Spiegel unserer Gesinnung.

Es ist also nach dem Selbstverständlichen zu fragen, also nach dem, was sich von selbst versteht. In der Physik sind es die Erhaltungssätze, allen voran der der Energie, die das physikalisch Allgemeinste ist. Die Physik ist dadurch definiert, dass sie es mit Unbelebten zu tun hat, das also von sich aus in seinem Zustand verharrt, solange keine Kraft auf es einwirkt. Erst die Änderung eines Zustandes oder Tempos bedarf daher einer Erklärung in Form einer materiellen Ursache. Das ist daher mit Recht der Inhalt von Newtons 1. Axiom seiner Bewegungslehre von 1686. Doch bereits René Descartes (1596 – 1650) nannte es "Das Erste Naturgesetz", dass jede Sache "soviel an ihr liegt" in ihrem Zustand bleibt. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir Menschen sie als "ruhend" oder "bewegt" ansehen, denn beide Verhaltensweisen sind menschliche Wertungen zu einem Bezugspunkt, den der Beobachter setzt, also subjektiv. Darüberhinaus sind es Vokabeln des Lebendigen, das über Bewegungsorgane und Bewegungswillen verfügt, die somit in der Physik den objektiven Sachverhalt überhaupt nicht treffen können. Und "ruhen" wie Opa auf dem Sofa bei einem Nickerchen tut Materielles schon gar nicht. Der von Kuhn beobachtete Paradigmenwechsel betraf aber gerade den naiven Gebrauch solch unzutreffender Begriffe, welche die "Fachleute" bis heute nicht stören. "Sprachvergessenheit ist zum Kennzeichen der Naturwissenschaften geworden." (Peter Janisch, 2009 in "Kein neues Menschenbild").

Unser Verstehen beruht auf dem im Gehirn gespeicherten Wissen, wie zuverlässig es auch sei. Ein Rückgriff auf einem außerhalb des Gehirns liegendes objektiv Wahres ist uns nicht möglich. Wir können nur das "für wahr" halten, was wir wissen, ggf. unter Benutzung von Medien. Etwas für "wahr" halten, von dem man nichts weiß oder nichts Genaues weiß, nähme dem Wahrheitsbegriff jeden Inhalt. Ich denke, dass es zur Würde des Menschen gehört, Nichtwissen auszuhalten. So sollten wir mit Goethe um unsere Grenzen wissend bestrebt sein, "das Erforschliche zu erforschen und das Unerforschliche ruhig zu verehren.

Zum Weiterlesen:
ZEIT UND SEIN - Tagungsbeiträge
(3) DPG 2006: Über das Selbst-Verständliche als Grundlage jeder Theorie
http://www.helmut-hille-philosophie.de/t-selbst.html


museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012
Authentizität – was ist das?
15.07.2012

Intelligente Wesen haben die Fähigkeit sich zu verstellen. Menschen haben darüber hinaus die Fähigkeit Meinungen zu verbreiten, die nicht ihrer Überzeugung entsprechen, weshalb die Frage, inwiefern Verhalten und Verlautbarungen echt, also authentisch sind, im Leben permanent aktuell ist. Die Welt ist ja ein großer Basar für Waren und Weltanschauungen und da möchte man schon gern wissen, ob die Anpreisungen stimmen, bevor man jemand etwas abnimmt. Wir haben daher auch bei Personen das Problem, zwischen Schein und Sein zu unterscheiden. Wer allerdings selbst oberflächlich ist und/oder auf den Schein hin lebt und agiert, um den Erwartungen seiner Mitmenschen und deren Moral zu entsprechen, wird die Frage nach Schein und Sein wahrscheinlich gar nicht verstehen und wird gar nicht wissen, warum jemand oder etwas ihn mehr anspricht als jemand oder etwas anderes. Aber auch wenn Lügen mehr oder weniger leicht über die Lippen fließen, bei der anderen, der ursprünglicheren Sprache des Menschen, bei seiner Körpersprache, fällt es Menschen schon viel schwerer, sich zu verstellen, weshalb es immer gut ist, auf die Sprache des Körpers zu achten, also auf seine Haltung, Mimik, Gestik und Sprachmelodie.

Nicht nur in Asien hat man das Problem, "sein Gesicht" zu wahren. In unserem Kulturkreis ist es das Image, um das es vielen geht, besonders wenn die wirtschaftliche oder politische Existenz davon abhängt. Doch denke ich, dass es auch Beispiele von Authentizität gibt. Spontan fällt mir Papst Johannes Paul II. ein, weshalb er so verehrt wurde und wird. Auch der Dalai Lama ist auf seine Weise authentisch, ohne dass er mir als der Gefangene seines Glaubens erscheint. Er weiß als Buddhist, dass auch die höchsten Wahrheiten keine absoluten Wahrheiten, sondern nur Wahrheiten für uns sind. Das schenkt ihm die Freiheit des Geistes, die er ausstrahlt. Der SPIEGEL 29/2007: "Er verkörpert, was er verkündet. Er lebt, was er lehrt: Der Dalai Lama ist so etwas wie der Gegenentwurf zum 'klassischen' Politiker." Bei den Sängern ist mir Udo Jürgens immer als der authentischste erschienen, was er als 74-jähriger mit seiner Aussage gegenüber der BILD-Zeitung bestätigte: "Ich war innerlich immer von einer tiefen Ernsthaftigkeit." Trotz aller Unterhaltung, um die es ihm ging, wollte er zugleich Haltung bewahren. Howard Carpendale ist 2003 von der musikalischen Bühne abgetreten, weil er merkte, dass seine Authentizität in Gefahr war. Inzwischen singt er wieder öffentlich.

Als der z. Zt. authentischste Deutsche erscheint vielen von uns Joachim Gauck, weshalb er auch soviel Zustimmung bei und zu seiner Wahl als Bundespräsident fand. Sein Charakter ist im Widerstand gegen die DDR-Diktatur gereift. Er wurde das, was eine andere Ostdeutsche nach dem Krieg sich vom neuen Menschen wünschte und was sie mir ins Stammbuch schrieb:

     R e g e n e r a t i o n

Es muss eine Erneuerung vom Geist her kommen
voll stärkstem Willen zu eigener Verantwortung
mit der Tat,
voll Ernst und Einsatzwillen zur Sauberkeit,
voll Verzicht auf persönliche Vorteile,
voll Willen zum Helfen mit der Tat
ohne Phrase, Schönrederei und Überheblichkeit
soll Ethik über Ästhetik gehen.
Jenseits von allem Dogma,
zum Willen ans Gute schlechthin,
ohne Angriffslust auf derzeitige Machtssysteme
soll bewiesen werden,
dass eine ganz tiefe Kraft nötig ist,
wenn Großes wachsen soll.

     Johanna Fischer

Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS - II. Die Hervorbringung des Menschlichen
(II/17) Herrschaft durch Sprache
http://www.helmut-hille.de/sprache.html


museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012
Neurophilosophie – was ist das?
15.09.2012

Neurophilosophie ist die Verbindung von Ergebnissen der Gehirnforschung mit philosophischen Fragestellungen, z.B. mit den Fragen "Was ist Wahrheit?" oder "Was ist Zeit", die beide ein Uraltthema der Philosophie sind und trotzdem immer noch kontrovers diskutiert werden. Bei der Frage nach der Wahrheit hilft uns schon das unstrittige Wissen, dass der Mensch, wie viele andere Lebewesen, zwei Gehirnhälften mit unterschiedlichen Funktionen hat. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass in der rechten Hirnhemisphäre das gesammelte Wissen gespeichert ist, zusammengezogen zum Weltbild seines Trägers, während die linke Hemisphäre dies detailliert zu artikulieren versucht, um sich mit anderen Austauschen und ggf. auch selbst korrigieren zu können. Das ist unsere Grundsituation als selbstreferentielle (selbstbezogene) Wesen, die wir zwangsläufig sind. Und wenn wir das Gefühl haben, dass das Gewusste mit dem von einem selbst oder von jemand anderen Gesagte übereinstimmt, halten wir es "für wahr". Auf eine außerhalb des Wissens und damit des Gehirns liegende "Wahrheit" sich berufen zu können, ist eine Illusion und die Position des naiven Realismus. Doch etwas für "wahr" zu halten, von dem man nichts weiß, würde dem Wahrheitsbegriff jeden Sinn nehmen. Die Neurophilosophie ist keine Theorie, weil sie mit den verwendeten unstrittigen Befunden unsere Erfahrungen ohne Hilfsannahmen einsichtig macht. Und indem wir die Wahrheitsfrage für im Wesentlichen geklärt halten dürfen und verstehen, warum irren menschlich ist, können wir in Frieden mit anderen Menschen kommen.

Heute ist es üblich geworden, die Zeit als ein großes Rätsel der Menschheit hinzustellen, um nicht zugeben zu müssen, dass sie eine von ihr selbst gesetzte physikalische Größe und damit keine materielle Sache ist. Selbst die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig, die für die Vorgabe von Messgrößen für Deutschland verantwortlich ist, scheut sich nicht 2012 anlässlich ihres groß gefeierten 125-jähringe Jubiläums zu schreiben: "Wer an die heutige PTB denkt, dem fällt als erstes gewiss die "Zeit" ein, deren Geheimnis zwar auch die Physiker nicht aufdecken können, die sich aber so genau messen lässt wie nichts anderes in der Welt." Doch die Zeit kann man nicht messen, weil sie das Maß des Messens ist, nämlich das Msß der Dauer! Auch die Zeit kann nicht ohne das Gehirn verstanden werden, um das sich Physiker nur ungern kümmern, obgleich es zahlreiche Lehrstühle für Neurophysik gibt, wo das Gehirn mit physikalischen Mitteln untersucht wird. Die Zeit ist wie die Wahrheit nicht etwas, was außerhalb des Gehirns existiert. Außerhalb von ihm gibt es nur materielle Uhren, die uns Zeitpunkte geben, mit denen wir entweder den Zeitpunkt eines Ereignisses bestimmen oder seine Dauer als die Differenz zweier Zeitpunkte, so wie die Länge die Differenz zweier Raumpunkte ist. Daran ist nichts, was nicht jedermann verstehen könnte. Den Eindruck von Zeitlichen gewinnen wir durch das Gedächtnis, das die unvermeidlich kurzen Sinneseindrücke miteinander verbindet und vergleicht. Ohne das Gedächtnis wüssten wir nichts von Bewegung und Zeit, würden wir keine Sprache und Melodien kennen, sondern hätten nur unverbundene Momenteindrücke und damit nichts, was unser Menschsein ausmacht. Das kann jedermann leicht nachvollziehen und ist ein weiteres Beispiel für Neurophilosophie. Wissenschaften können sich nicht aus sich heraus begründen, sondern immer nur vor dem Hintergrund der Bedingungen unserer Existenz, mit der es sich zuerst auseinanderzusetzen gilt, weswegen die wissenschaftlichen Fragestellungen zuerst welche der Philosophen waren. Und zu diesen Fragestellungen müssen wir zurückkehren unter Verwendung des gewonnenen Wissens, wollen wir uns selbst und damit auch die Welt verstehen.

Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS - II. Die Hervorbringung des Menschlichen
(II/7) Das Gehirn und sein Ich. Eine notwendige Klärung
http://www.helmut-hille.de/lt13.html


museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012
Kann es eine Weltformel geben?
15.10.2012

Im letzten Jahrhundert gab es Versuche mehrerer prominenter Physiker, eine Weltformel "für alles" zu finden. Da dies nicht gelungen ist, ergibt sich die Frage, ob die Versuche (oder die Physiker) nur unzulänglich waren oder die Welt sich einer solchen Formel verweigert. Die Quantenphysik hat gezeigt, dass es einerseits nicht möglich ist, für bestimmte Ereignisse letzte Ursachen zu nennen (die "Unschärfe", die nur Wahrscheinlichkeiten zulässt), andererseits auch, dass weit voneinander entfernte Teilchen momentan aufeinander reagieren, sofern sie durch eine gemeinsame Emission miteinander "verschränkt" wurden, ohne dass dafür eine weitere physikalische Ursache genannt werden kann. Ebenso wurde alle Materie durch den sog. Urknall miteinander verschränkt, was wir als Schwerkraft erfahren. Diese ist seit Newton zwar gut berechenbar, doch über die Art ihres Wirkens gibt es nur Hypothesen, die Newton aus gutem Grund abgelehnt hat, in der weisen Einsicht, dass die Realität alle Denkbarkeit übersteigt. Das zeigt eine bis heute prinzipielle Grenze unseres Wissens, die wir nicht überwinden können, abgesehen davon, dass wir auch im Biologischen und Geistigen ebensolche Grenzen finden. So wissen wir immer noch nicht, wie Leben und Bewusstsein entstanden sind. Gläubige greifen in diesen Fällen auf Gott als Schöpfer zurück, der eben dem Menschen weit überlegen wäre, weshalb er kein Problem hat, dies alles zu machen. Für sie also ist "Gott" die Weltformel, die zwar leer ist, jedoch den wesentlichen Aspekt enthält, dass es ein schöpferisches, unserem linearen Denken überlegenes Element geben muss, das die Vielfalt der Welt ermöglicht. Man denke nur an die ungeheuere Vielfalt der Arten, die kommen und vergehen.

In der englischen Metaphysik hat man dafür den Begriff der Emergenz (auftauchen, zum Vorschein kommen) geprägt. Etwas Neues taucht auf, wenn sich Elemente oder Partner verbinden, wo dann etwas von ihnen Verschiedenes entsteht. Parmenides, ein griechischer Philosoph aus Elea in Unteritalien (um 540-480 v. Chr.), aus einem Geschlecht von Medizinern stammend, Begründer der eleatischen Denkschule, beschrieb das in seinem Lehrgedicht über die Natur anhand der Zeugung als Beispiel so: "Als ersten von allen Göttern ersann sie (die gebietende Macht) den Eros." "Wenn Frau und Mann zusammen die Keime der Liebe mischen, formt die Kraft, die diese (Einheit) in den Adern aus verschiedenem Blute bildet, wohlgebaute Körper, wenn sie nur die Mischung bewahrt." Und "…bei allem und jeden - das Mehr an Mischung nur ist ihnen (allen Dingen) Gedanke." Wir haben es also mit einem permanent wirkenden schöpferischen Prinzip zu tun, das wir auch überall um uns herum erfahren, und nicht mit einem fertigen Weltentwurf, der in eine Formel gegossen werden kann. Meister Eckhart beschrieb die Zeitlosigkeit des schöpferischen Prinzips in der Sprache der Theologie so: "Das Eine selbst aber ist ein Beginn sonder allen Beginn. Überhaupt hätte Gott die Welt nie geschaffen, wenn Erschaffensein nicht gleichbedeutend wäre mit Erschaffen. Darum hat Gott die Welt in der Weise erschaffen, dass er sie noch heute ohne Unterlass erschafft. Ist doch alle Vergangenheit und alle Zukunft Gott fremd und ferne." Die Emergenz ist dabei die Weltformel ohne Formel und steht für ein offenes Universum, in dem immer wieder durch Zufall Neues entsteht und Altes vergeht und Raum für menschliche Freiheit und Verantwortung bleibt. "Zufall" heißt hier: ungeplant – nicht mehr und nicht weniger. Dieser Zufall und diese Offenheit hat aber unter den Menschen nicht nur Freunde, weil sich viele von ihnen zu ihrer inneren Sicherheit letzte Gewissheiten wünschen. Für mich aber gehört es zur Würde des Menschen, unbeantwortbare Fragen auszuhalten und dadurch ebenso offen und frei wie das Weltall selbst zu sein.

Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS - II. Die Hervorbringung des Menschlichen
(II/5) Was uns hindert, die Einheit des Daseins zu sehen. In der Sicht des Parmenides.
http://www.helmut-hille.de/lt11.html


museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012
Was ist Information?
15.11.2012

Wie es heißt, wären wir heute, dank des vielfältigen Medienangebots, insbesondere des Internets, wo man nach beliebigen Themen "googeln" kann, im Zeitalter der Information. Zugleich sehe ich uns aber auch im Zeitalter der Desinformation, weil so getan wird, als wären Texte und Bilder schon selbst die Information. Als Ende des 19. Jahrhunderts die Lochkarten aufkamen, sprach man richtigerweise noch von Datenverarbeitung. Heute hält man die Daten – codierte Löcher in einem Papiermedium, Buchstaben, Zeichen, Signale – schon für die Information. Man nehme aber nur den Text einer Sprache, die man nicht versteht – schon ist es mit der Information vorbei. Ist er wenigsten in lateinischer Schrift geschrieben, mag man als Westler noch einzelne Wörter erkennen und das Thema ahnen, aber bei arabischen oder chinesischen Schriftzeichen hört für Unkundige jede Information auf. Information ist eben nicht das, was man sieht und hört, sondern das, was man versteht, also das Geistige, das den hereinkommenden Daten Bedeutungen verleiht. Ich habe einmal definiert: Information ist die plausibelste Deutung von Daten. Darum ist ja Schulung so wichtig, dass alle die gleiche Bedeutungen der Wörter und Zeichen lernen, damit wir Menschen uns über das Elementare hinaus verständigen können. Auch Signale muss man als Signale erkennen und richtig lesen können, damit ein verlustloser Verkehr zu Lande, Luft und Wasser möglich ist. Reine Intuition, die nicht auf Wissen basiert, kann da nicht helfen.

In der Erkenntnis, dass wir geistig nur mit dem, was wir im Kopf haben, umgehen können, haben Physiker wie Carl Friedrich von Weizsäcker und Anton Zeilinger gefolgert, dass die Information das für ihre Wissenschaft Gegebene sei. Richtig ist, dass zwischen dem Objekt der Beschreibung und der Beschreibung des Objekts nicht unterschieden werden kann, gibt es doch keine außergeistige Urteilsinstanz. Wenn wir zusätzlich etwas prüfen und messen gewinnen wir nur ein weiteres Urteil - gemäß unserer geistigen Voraussetzungen. Diese Situation ist nicht hintergehbar. Information ist für uns Menschen Information über etwas, was nicht selbst Information ist (außer in der Informatik) - sonst wäre sie ja keine!

Es ist der alltägliche wie ideologische Materialismus, der das Geistige übersehend oder gar leugnend glaubt, die materiellen Zeichen wäre schon die Information, uns so vom Geist abschneidend, der aber gerade das ist, was unser Menschsein ausmacht. Materialisten wollen nicht nur vom heiligen Geist, sondern gleich vom Geistigen überhaupt nichts mehr wissen. Das ist ein gefährlicher Weg, an dessen Ende sich die Menschen selbst verlieren, nicht mehr wissend, wer sie sind. Hier kann insbesondere der Rückblick auf die Kultur- und Geistesgeschichte hilfreich sein, der zeigt, dass die menschliche Geschichte keineswegs nur die ihrer Produktionsmittel ist, wie die Marxisten lehren. Das ist eben auch nur ein Glaube wie jeder andere, wie aber überhaupt kein Glaube nur falsch ist, aber eben einseitig. Ja gerade erbitterte Glaubenskämpfe und heftige Ideologiestreite zeigen, wie wir uns von Geistigen leiten lassen. Doch der "einzig wahre Glaube" ist schon ein Widerspruch in sich, denn glauben kann man Beliebiges. Der Glaube an den Besitz der einzigen Wahrheit, die alles zu rechtfertigen scheint, ist der Vater des Terrors, der Glaubenseifer seine Mutter. Da wird auf Dauer nur helfen, die Wahrheitsansprüche zu reduzieren, eingedenk dessen, dass alles Wissen und Urteilen nur Interpretation aufgrund individueller Voraussetzungen ist, Information eben als die für den Interpretierenden plausibelste Deutung von Daten.

Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS - II. Die Hervorbringung des Menschlichen
(II/9) W. Dittrich "Das Natürliche des Nichtverstehens"
http://www.helmut-hille.de/dasnat.html


museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012
Der Philosoph sollte das Grundsätzliche bedenken
15.12.2012

Die Jubiläumssentenz – Dez. 2012: 10 Jahre Philosophische Sentenzen des Monats - und zugleich auch die 100.!

Da es sonst keiner tut, sollte der Philosoph das Grundsätzliche bedenken. Das Tatsächliche sollte er den Wissenschaftlern, das in der Politik Erforderliche und Mögliche den Politikern überlassen. Wenn aber keiner die Pilatusfrage "Was ist Wahrheit?" beantworten kann, sollte der Philosoph es können, damit die Menschen wissen, worüber sie streiten. Da die Wahrheitsfrage wie viele andere Grundsatzfragen aber etwas mit unserem Denken zu tun hat, gilt es die Arbeitsweise des Gehirns zu berücksichtigen und diese Richtung neuzeitlicher Philosophie nennt man Neurophilosophie – die Verbindung philosophischer Fragestellungen mit Befunden der Gehirnforschung. Dabei ist letztere in ihre Schranken zu verweisen. Heute glauben nämlich viele Gehirnforscher, dass sie die Deutungshoheit hätten, ohne jedoch grundsätzliche Fragen beantwortet zu haben. So erklären sich einige die Fähigkeit zur Grammatik einfach mit Grammatikgenen. Doch die Grammatik spiegelt die geistige Situation des Subjekts und ihre Formen sind die Darstellung geistiger Operationen, weshalb Grammatik weder angeboren ist, noch gelernt werden muss. Sie ergibt sich im Prozess der intellektuellen Reifung des Kindes und muss von ihm, anhand von Mustern, nur noch geübt werden. Chomskys Annahme einer angeborenen eigenen Tiefengrammatik erübrigt sich. Nietzsche sah genau, dass "vernünftiges Denken ein interpretierendes Denken (ist) nach einem Schema, das wir nicht abwerfen können". Dieses Schema ist die kognitive Situation selbst, aus der wir nicht ausbrechen können und in der wir zwangsläufig einem Subjekt (S) Prädikate (P) zuordnen, also Urteile über das S fällen.

Die Wahrheitsfrage hat mit dem Gehirn direkt etwas zu tun, das nicht ohne Grund in zwei Hemisphären geteilt ist. Etwas vereinfachend kann man sagen, dass in der rechten Hirnhälfte das gesammelte Wissen - zu einem Weltbild verbunden - gespeichert ist, gewissermaßen zur Quersumme verrechnet, während die linke Hälfte von Fall zu Fall versucht, das gespeicherte Wissen zu artikulieren. Wenn wir nun das Gefühl haben, dass das Gesagte – gleich von wem – mit dem Gewussten übereinstimmt, haben wir das Gefühl, dass es wahr ist. Die zwei Hälften des Gehirns sind unsere Waage der Welt, für die von altersher die Göttin der Gerechtigkeit steht, die mit verbundenen Augen rein aus ihrem Wissen heraus das gerechte Urteil zu erwägen sucht. Es gibt keine andere Wahrheitsinstanz. Selbst wenn wir etwas eingehend prüfen, gewinnen wir aufgrund unseres Wissens nur ein weiteres Urteil, wie richtig das auch sei.

Auch die menschliche Sinnsuche kommt aus der Arbeitsweise des Gehirns, das ein riesiges rationales Organ ist, das im Unbewussten arbeitet. Es will sich die Welt verständlich machen und sucht daher ständig nach dem Sinn von Strukturen und Handlungen. Daher kommt es, dass viele Menschen nach dem Sinn des Lebens suchen. Doch es gibt Dinge, die man einfach akzeptieren muss, will man sich nicht zum Narren seines Gehirns machen. Die Natur kennt weder Ziele noch Zwecke, sie ist einfach da und bedarf dazu keiner Begründung, die sie ja von etwas Übernatürlichem abhängig sehen würde, was der Ursprung des Gottesgedankens ist. Da das Leben eine Organisationsform von Materie ist, die sich selbst durchhält, ist es auch Zweck unseres Daseins Nachkommen zu haben. Das wäre der biologische Sinn des Lebens, in seiner sich durchhaltenden Natur angelegt, es sei denn, wir geben unserem Leben selbst einen darüber hinausgehenden Sinn.

Neben dem Sinn suchen wir ständig nach Bedeutungen. So versuchen wir immerfort Ereignissen, Zeichen, Bildern, Worten, Träumen usw. Bedeutungen zu verleihen, um sie uns verständlich zu machen. Dabei wäre es besser, sich mit Urteilen zurückzuhalten in der weisen Einsicht, dass die Realität alle Denkbarkeit übersteigt. Kennen wir die Arbeitsweise des Gehirns und berücksichtigen sie, werden wir Herr im eigenen Haus. Daher ist das Philosophieren für mich das Ringen um die Freiheit des Geistes.

Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS - II. Das Verhältnis zwischen Denken und Sein
(II/4) Was uns veranlasst, eine Aussage für "wahr" zu halten
http://www.helmut-hille.de/wasunsve.html


Sentenzen 2013     zur Sentenzen-Übersicht     nach oben

Dokument: http://www.helmut-hille-philosophie.de/st_2012.html