Hans-Georg Gadamer (1900 - 2002) gewidmet
Ohne Sinne gäbe es keine Wahrnehmungen und Erscheinungen.
Erst durch Ohren und Hirn werden Luftschwingungen zu Geräuschen und Lauten,
erst die Augen und der Sehcortex machen aus Helligkeitsunterschieden Bilder,
erst durch Mund und Nase vermittelte chemische Reize werden zu Geschmack und Duft
aus der die Welt entsteht, mit der wir umgehen.
Alles ist daher Interpretation anhand der Mittel und der Verständigkeit des Individuums -
und da soll es keine Rolle des Beobachters geben?
Wer kann so etwas Närrisches glauben?
Und weiter: damit Mentales wie Empfindungen und Gedanken mitgeteilt werden können,
bedarf es eines an Materie gebundenen Zwischenreichs
aus Körperhaltungen, Gesten, Mimik, Tonmodulation,
aus Wörtern, Bildern, Zeichen und Symbolen,
welche das Gemeinte transportieren sollen,
die also nicht selber das sind, was erscheint.
Das ist der Ursprung des hermeneutischen Problems!
(Hermeneutik = Kunst der Auslegung; s. auch Datei (II/1a) auf WEGE DES DENKENS mit Bild Gadamer)
Es begann als der aufrecht gehende Vormensch
mit einem Finger seiner nun freien Hand auf etwas deutete,
was das Gemeinte war, wie Feind oder Beute.
Über die unwillkürliche Körpersprache hinaus
will eine solche Geste absichtlich eine Bedeutung vermitteln.
Und mit der Fähigkeit, auf Gemeintes gezielt weisen zu können,
begann das, was das geistige Menschsein ausmacht.
Der Deutende setzt dabei auf die Verständigkeit seines Gegenübers,
das in der Lage sein sollte,
den Sinn von Gesten, Wörtern, Zeichen usw. zu erfassen.
Alles aus diesem Zwischenreich mentaler Gehalte
bedarf also der Deutung und Auslegung,
wenn es verstanden werden soll,
was eben auch immer mit Unsicherheiten verbunden ist.
Letztlich können Wahrnehmungen und deren Interpretation
nicht ohne den Wahrnehmenden und Interpretierenden verstanden werden.
Das heißt generell:
alle Deutung spiegelt zuerst das Vorwissen und das geistige Niveau des Deutenden,
aber auch sein Interesse, seine Aufmerksamkeit und den Zeitgeist.
Das sind zwar immer wieder andere,
aber nicht aufzuhebende Grenzen aller Hermeneutik.
So ist die Rolle des Beobachters unendlich.
Unendlich im Raum und unendlich in der Zeit.
Sie ist nicht hintergehbar,
hat keine Schlupflöcher und Hintertürchen.
Und indem man das erkennt,
befreit man sich von falschen Wahrheitsansprüchen [Text 4]
und wird geistig Herr im eigenen Haus:
denn wer sein Verstehen nicht versteht, versteht letztlich gar nichts.