Physik seit Einstein - 69. Jahrestagung der DPG / TU Berlin 2005 - großer Hörsaal der Physikalischen Chemie
AK Phil 5.2 (2. Referat)


Ist die Zeit messbar?
Ein Beispiel für Neurophilosophie

Abstract

Mehr noch als die Außenwelt macht den Menschen die eigene Innenwelt Probleme - wenn diese als eine eigene Wirklichkeit denn überhaupt wahrgenommen wird. Während der Mensch in der modernen Industriegesellschaft seine Mitwelt in kaum noch überbietbarer Weise für seine Zwecke instrumentalisiert hat, ist ihm sein eigenes Denken und Verstehen eine Terra incognita. Getragen von der reduktionistischen Überzeugung, dass die Innenwelt nur ein Spiegel der Außenwelt ist - und nicht umgekehrt wie kritisches Denken lehrt - ist es gerade unter Physikern beliebt, das Verständnis abzukürzen und z.B. keinen Unterschied zwischen Zeit und Uhr zu machen, was ein Beispiel für das Wegbrechen der "kognitiven Grundlagen unserer Kultur" ist, wie es in der Mitteilung des Arbeitskreises "Philosophie der Physik" heißt - und das im angeblichen Zeitalter der Information! Um jedoch nicht einfach da weiterzumachen, wo frühere Theoretiker einmal aufgehört haben, halte ich eine Verbindung zwischen neurologischen Forschungsergebnissen und philosophischen Fragestellungen für unverzichtbar, was man als Neurophilosophie bezeichnet. Die Frage sei also gestellt: kommt die Zeit ins Gehirn oder entsteht sie dort? Und weiter: Kann man die Zeit messen oder ist sie eine physikalische Größe mit der gemessen wird? Und was wird gemessen?

Vor dem Referat und ggf. während der Diskussion projizierte Folie: "Zum Thema Zeit - welche Erklärung bevorzugen Sie?"
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Referat

Genau gehende Uhren werden gern als Chronometer bezeichnet, als würden sie die Zeit messen, so wie im Keller "Uhren" das durchströmende Volumen von Gas oder Wasser messen. Um die Zeit messen zu können, müsste sie daher, wie Gas oder Wasser, etwas Stoffliches sein. Doch niemand hat jemals einen Stoff "Zeit" gesehen. Was tun also Chronometer tatsächlich? Sie geben uns ein mehr oder weniger verlässliches Maß der Zeit, mit dessen Hilfe wir entweder den Zeitpunkt eines Ereignisses oder seine Dauer als die Differenz zweier Zeitpunkte, nämlich t = t1 - t0 bestimmen können. Die von einer Uhr gezeigten Zeitpunkte sind verbindlich, wenn sie dem internationalen Zeitnormal entsprechen. Das ist genau wie bei einem Maßband, das uns ein Maß der Länge gibt, als die Differenz zweier Bandpunkte. Die von ihm dargestellte Länge ist verbindlich, wenn sie der gültigen Meterkonvention entspricht. Das Maß der Dauer wird heute durch einen Satz Atomuhren gegeben, die ihrerseits durch Schaltsekunden mit der astronomischen Beobachtung der Tageslänge koordiniert werden, wodurch sich die koordinierte Weltzeit UTC ergibt, die Uhren und Erleben in Übereinstimmung hält.

Was ich Ihnen hier vortrage ist also keine Theorie, sondern die Praxis!
Und zwar der einzig möglichen, wie ich noch zeigen werde.

Wer immer von "Zeitmessung" spricht, weil er die Funktion einer Uhr nicht versteht und nicht zwischen Uhr und Zeit unterscheidet, kann möglicherweise auch nicht sinnvoll mit einer Uhr umgehen, weil er ja das Maß des Messens, die Zeitpunkte, für den Gegenstand des Messens hält und so gar nicht weiß, was er misst. Darüber hinaus weiß er auch nicht, dass "messen" der Gewinn eines quantitativen Wissens ist, zu dem nur zur Kognition fähige Lebewesen in der Lage sind, nicht jedoch tote Apparate, die nur etwas anzeigen können. Alles Wissen ist geistiger Natur!

Und wie kann man ohne vorgegebene Maßeinheiten je etwas messen???

Zuerst müssen Maßeinheiten festgelegt werden! Diese Notwendigkeit ist unaufhebbar! Wer glaubt, dass Uhren die Zeit messen, müsste auch glauben, die Zeit bliebe stehen, wenn dies seine Uhr tut. Aber die Zeit kann man nicht messen, sondern ihre Einheit, die Sekunde, muss, wie alle anderen Maßeinheiten auch, durch Definition festgelegt und durch internationale Konventionen zur Geltung gebracht werden, denn alle Normale sind keine Frage der Wahrheit sondern der Geltung. Sodann bedürfen die definierten Einheiten der materiellen Wiedergabe mittels geeichter Maßstäbe, eine Eichung die - im Falle der Uhren - in Deutschland mittels der Atomuhren der PTB in Braunschweig erfolgt, von der per Funk Zeitpunkte gesendet werden. Die Zeit "vergeht" nicht, sondern nur die Zählung der immer gleichen Zeiteinheiten schreitet fort, was anzuzeigen die einzige Aufgabe einer Uhr ist. Gerade erst dann, wenn Maßstäbe, so auch Uhren, uns orts- und bewegungs-unabhängig ein immer gleiches Maß geben, kann es sinnvolle, d.h. geistig und technisch nachvollziehbare = übertragbare Handlungen geben, die als "messen" bezeichnet werden dürfen, deren Ergebnisse das Prädikat "Wissen" verdienen.

Während also am Messvorgang selbst nichts Geheimnisvolles ist, wenn man die Zeit richtigerweise als das Maß der Dauer versteht und die Uhr als ein Hilfsmittel, Zeitpunkte in objektiver und möglichst gültiger = der Norm entsprechender Weise darzustellen, bleibt doch die Frage, wie Menschen zum Begriff der Zeit kommen, wenn sie nichts Stoffliches ist. Hier ist das zu beachten, was der Quantenphysiker die Rolle des Beobachters nennt, die vielen Physikern zu akzeptieren immer noch schwer fällt, soll in ihren Augen doch alles ganz objektiv sein. Doch es ist einzig sein Erinnerungsvermögen, das dem Beobachter Zeitliches erlebbar macht. So wie es ohne Ohren keine Geräusche sondern nur materielle Schwingungen gibt, so gibt es ohne ein vergleichendes Gedächtnis nur den jeweils momentanen Zustand der Dinge. Ohne einen Beobachter gibt es nichts Zeitliches! "Erst durch die unserer Erinnerung zugänglichen Einzelerlebnisse nach dem nicht weiter zu analysierenden (d.h. uns spontan gegebenen) Kriterium des 'Früher' und 'Später'" (Albert Einstein, Grundzüge der Relativitätstheorie), gewinnen wir - durch eine originäre Leistung des Erkenntnisapparats - die zeitliche Dimension des Erlebens und den Begriff der Zeit als der Ordnung des Nacheinanders (Definition von Leibniz). Diese Ordnung tritt zu den ebenfalls auf unseren Unterscheidungen beruhenden 3 Ordnungen des Neben-, Über- und Hintereinanders als 4. und eigene Ordnung hinzu. Wir nennen die Ordnungen "Dimensionen". Die Erinnerung und die Fähigkeit der Unterscheidung von Inhalten des Gedächtnisses nach dem uns gegebenen und daher "nicht weiter zu analysierenden Kriterium des 'Früher' und 'Später'" sind die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung aller Merkmale, die zeitlich sind, wie Reihenfolge, Veränderung, Bewegung, Gleichzeitigkeit, Ungleichzeitigkeit und Dauer. Es sind Merkmale, die wir an die Dinge herantragen, um sie handhaben zu können. Oder wie es Einstein am Ende seines Lebens, einem Monat vor seinem Tod sah, wie immer alles Mentale als "Illusion" ansehend: "Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion." Die Zeit ist demnach nicht beim Urknall entstanden, wie man heute so salopp sagt, da sie ja nichts Stoffliches ist, sondern sie entsteht immer wieder neu im Kopf des Beobachters, wenn er sich erinnert und Erinnerungen vergleicht - was ja das Gehirn ganz automatisch tut, weshalb dem Beobachter ihr Ursprung so wenig bewusst ist. Doch er orientiert sich nicht in Zeit und Raum, wie er meint, sondern mit Hilfe von Zeit und Raum seines Unterscheidungsvermögens, mit denen sein Gehirn das Chaos der Wahrnehmungen auf eine für das Lebewesen nützliche Weise ordnet. Das ist es, was wir positiv feststellen können.

Hier ist die Stelle, um etwas über das strapazierte Verhältnis von Zeit und Raum zu sagen: Zeitmaße werden uns nacheinander, Raummaße dagegen nebeneinander, d.h. auf einmal gegeben. Dieser Unterschied ist unaufhebbar, wollen wir nicht unser zeitliches Verständnis verlieren. Gemeinsam ist Zeit und Raum ihre Maß-gebende Funktion als physikalische Größen. Das ist alles, was sich positiv über das Verhältnis von Zeit und Raum sagen lässt und mehr zu sagen ist m.E. wissenschaftlich auch nicht nötig.

(Jetzt noch ein paar Worte zum Raum: Raum ist ja immer dort, wo nichts ist. Also ist der Raum, ebenso wie die Zeit, keine Sache. Und weil er keine Sache ist hat er auch keine materiellen Eigenschaften wie metrische Strukturen. Jedoch haben Menschen rein geistig metrische Modelle entwickelt, wie die euklidische Geometrie für gerade Linien, mit denen sie Räumliches in nachvollziehbarer Weise beschreiben können. Und wenn sich Beschreibungen vereinfachen oder präzisieren lassen, indem man eine sphärische Geometrie verwendet, ist das natürlich in Ordnung. Das gilt auch für das Modell der Raum-Zeit. Aber es berechtigt nicht zu sagen, dass der Raum euklidisch, sphärisch oder raum-zeitlich ist, denn er ist nichts. Immer haben wir es nur mit geistigen Modellen zu tun, deren Zweckmäßigkeit für das jeweilige Problem zu erweisen ist.) - aus Zeitgründen nicht vorgetragen

Es bleibt noch zu klären, was der Vorgang des Messens kognitiv ist. Das Grundmuster des quantitativen Erkennens ist das Vergleichen. Messen ist der mentale Vorgang des Kenntnisgewinns durch Vergleichen von kognitiv verschiedenwertigen Größen: einer bekannten, weil vom Menschen gesetzten - dem Maß - und einer unbekannten, die zum Maß durch Zahlen, die in der Regel ein materielles Hilfsmittel gibt, in Relation gebracht wird, wodurch sie ebenfalls bekannt wird. Erst müssen Normale festgelegt sein, dann kann man messen - denn mit was wollte man sonst messen? Maße werden also aufgrund eines Begriffs von Größe zweckmäßig definiert. Sie existieren nicht sondern sie gelten, sind also etwas Geistiges, mit deren Hilfe wir uns ein quantitatives Wissen aneignen können. Geistig können wir immer nur mit Geistigen umgehen. Das ist eine Selbst-Verständlichkeit! Nur wenn es nicht so wäre, bedürfte dies einer Erklärung. An der aus der unaufhebbaren kognitiven Grundsituation kommenden Bedingung aller quantitativen Erkenntnis kann keine Theorie etwas deuteln oder ändern, weshalb nur diese Grundsituation selbst die Basis weitergehender Überlegungen sein kann.

Vor aller Forschung muss also die Klärung der Begriffe und Prinzipien und ihrer richtigen Handhabung liegen, will man zu klaren Fragen und Forschungsprogrammen kommen, um nicht etwa z.B. ein Maß für das zu Messende zu halten. Eine solche Abklärung allein, wie hier mit Hilfe der Neurophilosophie, die neurologische Befunde mit philosophischen Fragestellungen verknüpft, wird schon mehr an Erkenntnissen bringen, als alles Forschen aufgrund unklarer Annahmen hin, die ja immer nur zu unklaren Ergebnissen und zu Streit führen können. Im Physik Journal vom Oktober 2004 wurde auf die "Vorlaufforschung" als "die unabdingbare Voraussetzung" für spätere brauchbare Resultate hingewiesen. Betrachten Sie bitte daher eine gewissenhafte Propädeutik als eine lohnende Investition in die Zukunft Ihrer Wissenschaft. Wollen Sie die Orientierung behalten, beginnen Sie mit Ihrer Wissenschaft bei ihren Voraus-Setzungen und nicht irgendwo mittendrin. Sie können sonst vielleicht gut "mitschwätze", wie der Schwabe sagt, ohne eventuell die Sache selbst wirklich zu verstehen.

Doch jetzt genug der Belehrung. Wie sagte doch Goethe: "Die Rede geht herab, wenn sie beschreibt, der Geist will aufwärts, wo er ewig bleibt." Hier deshalb zum Abschluss das Wort einer unitarischen Dichterin, das auch auf meiner Philosophie-Website ZEIT UND SEIN zu finden ist, auf der ebenfalls meine auf dieser Tagung vorgetragenen Referate ab sofort dokumentiert sind (auch projiziert):

    Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Autor:
Helmut Hille, Heilbronn
FV DD, Mitglied des AK Phil

s. auch "Texte in Versform" Text [1] "Zeit und Sein"
das Gedicht "Raum und Zeit" gibt es mit Themenfoto auch als Themenbild 2 "Perspektiven"
neu: Verzeichnis meiner Texte zur Neurophilosophie s. hier  (Verzeichnis auf WEGE DES DENKENS)


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